Weissagungen wurden wahr… „Ihr werdet`s aller Voraussicht
nach nicht bereuen“
Nach einer Woche extremer Anstrengung, das normale Leben zu
meistern, während der Kopf noch immer im TILT-Status ist, suche ich die
Gemeinschaft Mitleidender. Help! Help! Die Schwaad-Eck tut mir extrem gut.
Dachte schon, ich allein bin so gaga im Kopf. Ausweichen hilft da nicht,
Gefühlen muss man nachgeben hab ich gelernt, sie ignorieren ist ein
aussichtsloser Kampf gegen sich selbst. Auch der Ausdruckstänzer des legendären
Abends des 12. September im Tanzbrunnen zu Köln schwebt noch und hat die Augen
irgendwo oben im Nichts.
Ein paar Rheinkilometer weiter shoutete Hubert von Goisern
seinerzeit „Es gibt kein deutsches Wort für Showtime“ in den blauen
Nachmittagshimmel und preschte los. Seit dem brennt in mir dieses Feuer von „es
wird mal wieder höchste Zeit für veritabel Krach und große Bühne und mit ner
geilen Band“. Fast auf den Tag genau ein Jahr später um kurz nach sieben
betritt Jächt mit der waldfriedenvorgewärmten Band die Bühne, wirft uns ein
„Ihr seht sooooo gut aus!!! und seinem Gitarristen ein sadomasochistisches
„gib’s mir, Friese“ entgegen und schon steppt der Bär. Drei Stunden
Ausnahmezustand und allerschönste Reizüberflutung. Ein anhaltender, hoch
erstrebenswerter Bewusstseinszustand des nicht fassen Könnens…. der Kopf kann
es überhaupt nicht begreifen, nicht aufnehmen, ist schlichtweg überfordert, ich
schalte um auf Emotion und Stimmung. Die erste Gänsehaut des Abends rollt auf
mit dem gemeinschaftlichen ssssseeeeeelllllbbbber, als mit dem Ausdruckstanz
die erste Welle losbricht.
Falls Jächt je schlaflose Nächte hatte ob der Frage, was
lass ich weg, - „die Leute wolln die alten Songs und ich will Neues erzählen“
ist ne alte Erkenntnis - hat er sie meisterlich gelöst. Ein Griff tief in die
Musikbox der Vergangenheit und reichlich neues Material, quasi Appetithäppchen
auf die gehaltvolle Zukunft, damit die Sucht und das Virus nur ja nicht
nachlässt und neue Nahrung bekommt. Jetzt ist das Fieber ausgebrochen, also schnell
her mit dem Silberling, am liebsten je flötter je besser. Antwort - wie immer
bei neuen Songs schlägt ja erstmal die Musik die Brücke, hier und heute in
voller Breitseite. Darunter liegt gehaltvoll des Wortes tiefste Wahrheit.
Spitzzüngig und klug seziert Jächt die Worthülsen der Werbe- und
Politikblubberer, und trifft ebenso auf den Punkt, wenn es an Hirn und Herz
geht. Was ist der Unterschied zwischen Anschlag und Einsatz? Politbarometer
ohne TV-Rechte – hier herrscht das Recht der Bühne. Es lebe die Meinungsfreiheit!
Ein fettes Gitarrenriff zerreißt die Luft, auf einmal strotzt alles von Gitarre
und Bass. Brahm spielt einen Bass, der tief in den Eingeweiden sein Echo sucht
und versteht sich auch noch bühnentauglich zu bewegen. Nicht zu fassen sowas. Der
hässlichste Bassist der Welt, ja ja ja, das Auge hört mit, noch lange nachdem
das Ohr pausiert. Die weltbesten Frisöre und ich würden was drum geben, einmal
diese Lockenpracht unter die Finger zu bekommen. Überhaupt, diese Band! Eine
Reaktivierung guter alter Liebe. Das schreit nach ner Laufzeitverlängerung.
Sagemüllers Gerd verschwindet fast hinter seinen Gerätschaften. Und so wie er
die Töppe kloppt, die Felle streichelt, die Becken touchiert, lässt es einen
völlig vergessen, dass er inzwischen zum Gitarristen umgeswitcht ist! Gelernt
ist gelernt! Diese Band mit der alten neuen Rhythmusabteilung löst einen
intergalaktischen Urknall aus. Drei Dimensionen reichen nicht, die Jungs machen
glatt ne Vierte auf! Wenn nicht Musik sowieso völlig ohne Dimensionen auskommt
– die erschließen sie voll und ganz und darüber hinaus…!
Auf seinem Stammplatz linke Bühnenseite sitzt Jürgen Fritz,
das Tier an den Tasten, auch mit so ner beneidenswert wallenden Mähne
geschmückt. Er ist das erste und das größte Lebewesen, das den Flügel nach dem
Hemd des Gitarristen hat lackieren lassen. Das hat sogar noch güldene Fäden
eingewirkt. Hat sich fein gemacht, der Friese, der wie kein anderer in die
Gitarre schlottert, mal in stiller Zwiesprache mit seinem Instrument eins wird
oder als Fenderhalter uns die Töne um die Ohren knallt. Lebt jeden Ton in
hormonellen Standardsituationen. Und auch da kriegen die Augen jede Menge
Futter. Nur der Vollständigkeit halber: der Nippeser, sprich: rustikal-Veedel
Gitarrenvirtuose Frank hat seit jeher ein Faible für schräge Hemden. Liefert
sich seit jeher legendäre Duelle mit Helmut und zirkelt ein ums andere Solo in
die Luft. Spielt sich auf die Zehenspitzen. Nimmt Huldigungen für Soli und
andere Kunststücke eher zurückhaltend aber still in die Breite grinsend
entgegen. Und der Bühnenchef? Der Ausdruckstänzer? Die Rampensau? Ja, dieser
Mann stellt wirklich alles, was "LIVE" bedeutet in den Schatten!!!
Herz-Blut-Seele-Schweiß-Ausdruck-(Stimme)-Gestik-Mimik-Pose-bis zur
"Auflösung" - im mehrfachen Sinne - ECHT klasse - MENSCH! Jächt lebt
jedes Wort, teilt das, was weh und gut tut mit uns, absolut sensibel,
zerbrechlich, filigran und lügenfrei. Anders gesagt: da ist jede Menge Hose auf
der Bühne.
Diese Band setzt jedes Wort in die richtige Tonlage, in die
richtige Stimmung. Von Völkerverständigungsmelodramen bis
Barkeeperüberzeugungsmarathons. Von leisen Tönen und Schlaglöchern des Lebens.
Zitat: „es bringt Glück in die Seele und Tränen in die Augen, manchmal
umgekehrt.“ Danke! Helmut und Frank brettern breitbeinig, der Holzbasser gräbt
tief, lässt sogar Stille atmen und baggert sich durch, kollektives Abrocken ist
angesagt. Ringo – nur die Harten kommen in den Garten. Alles im Griff – Jürgen
hält es nicht mehr aufm Hocker, Fette Ratten spielen mich der Ohnmacht nahe, da
dröseln sich sogar die Schnürsenkel auf, Daach sin Juwele, Motto des Tages,
meine persönliche Herzensangelegenheit, inzwischen ist endlich auch das
Sitzfleisch der Hinterbänkler in Wallung gekommen. Steht eigentlich der Dom
noch? Diese Band gehört unter Artenschutz gestellt, oder zumindest zum
unantastbaren Biotop erklärt. Und es ist mir unbegreiflich, dass die
Zuteilungsscheine, sprich Eintrittkarten, nicht weg gingen wie warme Semmeln.
Sind die Kölner inzwischen kulturverseucht oder satt oder falsch gepolt oder
wie gehen die mit ihren Edelgewächsen um? Hams wohl nit mieh nüdisch? Echt, da
krieg ich ’n Hals. Geht die unfreundliche Oberflächlichkeit schon so weit, dass
sie in Ignoranz ausartet? Ist ja nicht so, dass so ein Reinheits(an)gebot an
Musik und Kunstgenuss am laufenden Band geboten wird, auch und schon gar nicht
in Köln. Dafür mööch ich zo Fooß noh Kölle jon. Hier ist ein Gesamtkunstwerk zu
hören, das seines Gleichen sucht und die (eine einzige!) Presse schwafelt in
den flachsten Boulevardpresseklischees derer sie habhaft werden konnte….
Propheten gelten nix im eigenen Land, aber dafür sind sie eigentlich zu jung.
Vor einer Woche war ich leicht trunken, jetzt bin ich
besoffen. Dauerzustand für lange. Will und will nicht nüchtern werden. Ich weiß
gar nicht wie mir ist, es ist viertel vor Tanzbrunnenultimo. Es fehlt nur noch
Maach op. Ich erwarte und verdamme es. Wenn es möglich ist, die Zeit
einzufrieren, dann ist jetzt der richtige Zeitpunkt. Kairos und Chronos stehen
sich mal wieder heftig auf den Füßen. Na gut, lasst es kommen. Ich knie vor
euch. Überwältigend, für alle. Sie zelebrieren es wie eine Messe der Sehnsucht,
des Wollens, der Lust… ich verliere mich darin. Die Abschiedsrunde ist
ausgiebig lange, Zeit schinden, noch nicht bereit für die Außenwelt… Ich würde
jetzt gern mal hinter die Stirn gucken und lesen, was da jetzt steht, wenn da
was steht…. Sechs Mannesbilder im Schwebezustand der Glückseligkeit, Jächt und
Frank sitzen da oben und denken so was wie boa, ist das geil! Wenn’s denn sein
muss, nun gut, Stecker raus, Gitarren in die Ecke stellen.
Irgendwann wird sich der Mantel der Verklärung darüber
legen. Dann werden so Sätze fallen wie: weißt du noch, als Frank jodelte?
Vielleicht sitzen wir dann alle im Ohrensessel um den Tisch im Seniorenstift Am
Arsch e Tröötsche, verdonnert zum real gewordenen Simultanalptraum, mit dem
Hörgerät wedelnd. Dann werden wir die Bilder angucken und sagen Mensch, die
brauchen fast keine Musik, die sprechen für sich allein. Das ist wie Stummfilm.
Nur bunter.
Als wir am Sonntagabend den unvermeidlichen Heimweg
antreten, entfleucht mir auf der Zoobrücke ein tiefer Seufzer. Der wollte raus.
Und hängt jetzt da an den Ufern des Rheins beim Tanzbrunnen und sucht die
anderen….
Christel Amberg-Wiegand
für www.erlebtemusik.de
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