07.September 2006, Deutsche Flugsicherung Langen

Italienische Flugsicherung

Eine gute Tat! Ein guter Geist hat Pippo Pollina mit dem Palermo Acoustic Quartett zur After-Challenge-Lauf-Party 2006 bei der dfs nach Langen geholt. Außer ein paar Wenigen ist Pippo wahrscheinlich weitgehend unbekannt. Ist also sicher nicht so einfach, das Fragezeichen hinten dem Bandnamen gegen ein Ausrufezeichen zu tauschen. Sportliche Herausforderung. Pippos feine Antennen nehmen das auch sofort auf. Aber mit seiner Erfahrung aus über 20 Jahren Musik an fast allen Orten der Welt fällt es ihm nicht schwer, sich auf ein Publikum einzustellen. Die sonst so wichtigen schönen Geschichten zwischen den Liedern würden heute ungehört in den Wind gehen. Deshalb lässt er sie einfach weg und macht durchgängig Musik. Die Sportler, Gäste, Freunde haben sich’s verdient. Sie sitzen zusammen beim Bier, Wein und leckerem Essen und unterhalten sich miteinander, anstatt sich unterhalten zu lassen. Aber das ist schon in Ordnung. Pippo nimmt die Rolle an und verlässt sich ganz auf seine Musik. Er nutzt die Chance und am Ende ist er der ungesetzte Winner.

Man nehme das Beste, Schönste, gern Gehörteste, umgebe sich mit exzellenten Musikern, zelebriere voller Spielfreude und heraus kommt ein feines solides Konzert. Die Setlist – wenn es denn eine gibt - enthält einige meiner Lieblingsstücke. Mein Herz geht auf als die ersten Noten des Openers Marrakesh anklingen! Livepremiere und leider vorerst last Chance! Dieses Programm gibt es dann erstmal nicht mehr. Schade. Da sind sie wieder, diese fast klarinettenartig leicht nasalen Töne des Saxophons. Unverkennbar! Gleich so ein Ohrschmeichler und hört sich nicht nur unverschämt gut an, sieht auch sehr! gut aus. Doppelte Sinnesfreude. Mit La Pioggia di Vancouver kriegt die Sache mehr und mehr Fahrt, richtig fetzig drehen die Jungs auf und leisten musikalische Überzeugungsarbeit: mit Erfolg – im Applaus klingt Begeisterung mit, nicht nur Höflichkeit. Centopassi ist dann wieder etwas ruhiger und fast eindringlich. Ein Lied voller Hoffnung und Versprechen in die Zukunft. Es lohnt sich, den deutschen Text ausfindig zu machen! Dann Terra, natürlich!!!, eine Liebeserklärung an sein Land – voller Poesie, Bilder und unbedingtem Vertrauen – Milchstraßenlang. Nachdem Pippo am Piano vorsichtig das Land begeht, übernimmt Enzo die Melodie in einem laaang gezogenen Ton und mit fetter Stromgitarre, Bass und Drums durchpflügen sie das Land.

Der Himmel trägt auf einmal unheildrohendes Dunkelblau und heftiger Wind kommt auf. Doch die Jungs auf der kleinen Bühne vertreiben erfolgreich bis zum letzten Ton jegliche weitere Wettereinmischung. Die Musik ist bodenständig, ausgeschlafen, erfrischend kurzweilig, kein Einheitsdolcevita, kein Gleichstrom, keine Langweiler-Akkorde garniert mit stoischen Schlagzeugmuster und gefühllosem Bass. Unglaublich viel Abwechslung im Universum von wie fühlt sich Musik an, welche Stimmung ist darin, wie geht sie unter die Haut und verschließt die Poren. Ganz einfach: Saxophone, weich kreisender Besen und ein gefühlvoller Bass und virtuos feinfühlig und mit ganz viel Herzblut gespielte Gitarren. Und von wegen nur Handarbeit! Enzos Brett wird zum Klangfarbenwerkzeug, ändert den Ton, macht ihn breit wie ne Autobahn und wieder eng. Fußnoten! Nach dem ausgedehnten Solo steigt Pippo wieder ein und explodiert förmlich in einem fulminanten temporeichen Zwischenspurt am Tamburin, während die Band sich dezent zurückzieht. Und ich frage mich wieder mal, wie geht das, ohne sich Knoten in die Finger zu schlagen? Verdienter Szenenapplaus, als sich die Band wieder reinspielt. Vor der Pause – quasi zum langsam runterfahren – ein Wiegenlied: Sambadiò – wunderbar davongetragen von Gaspare auf der Saxinette mit ganz wenig Percussion drumherum. Alles richtig, alle Töne am rechten Platz – ein Kleinod.

Der zweite Teil beginnt mit einem Fehl-Start, Pippo fehlt. Nanu? Beim Betriebsausflug in den Jazz hat er Pause und steht im Niemandsland vor der Bühne. Bekannt wie das Tatortthema, Titel mit Fragezeichen, ist sofort im Kopf präsent: Lucas tiefer dunkler Jazzbass wummert durch die Luft, baut mit Toti das Fundament, ein rotziges Sax dazu und Enzo wiederum brilliert mit seinen Saitenkünsten auch da. I’m deeply impressed, ich hätte nicht gedacht, dass die Vier sooo!!! jazzen können. Nicht kompliziert gestrickt, sondern in einer Art, wo noch Melodie drin vorkommt, ohne Ätzwirkung im Gehörgang. Wirklich vom Allerfeinsten, was die Jungs da bieten. Rock, Jazz, Tango, Rumba, sie nehmen alles auf, was der Musikkosmos hergibt und machen daraus knackigen melodiösen, aber keineswegs eintönigen Rock italienischer Bauart. Ausgefeilte Arrangements in jeglicher Spielart. Fast schon ein echter Gassenhauer mit Partykracherqualität ist Chiaramonte Gulfi passend mit einem überschwänglichen Hey!! zu Ende gebracht. Ich möchte es am liebsten zurückrufen, ja, das macht richtig Spaß hier. Obwohl und trotzdem und erst recht! Sie legen nach, machen Tempo. Hier geht mehr, als nur nebenher. „Unterkriegen lass’ ich mich nicht“ trifft als bekannte Textzeile gerade auf meine Ohren. DIE Gelegenheit für ausgedehnte Soli – jeder darf sich jetzt breit machen, Gaspare – der Mann für die langen Töne und ein kerniges Sax ist das I-Tüpfelchen, das den Liedern eine völlig neue Dimension gibt. Ein Ereignis! Jetzt ist Luca dran. Seine Bassläufe brennen förmlich in den Ohren und lassen die Magenwände zittern. Toti wachsen noch zwei Arme, so wie er da arbeitet, als gelte es alle zu überflügeln. Irgendwie treffen sich alle wieder zum letzten finalen alles in sich vereinenden WUMM. Riesig! Langer, ehrlicher Applaus begleitet die Abschiedsverbeugung und fordert Zugabe! Eine Ehrenrunde ist drin: ein besonders schönes Finnegan’s Wake, rockig, griffig, kompakt.

Pippos Musik ist auch ne Art Weltmusik, er sammelt Eindrücke von überall her, formt Neues daraus und ist im besten Sinne eigensinnig. Auch heute Abend. Und seine Band ist einfach klasse! Über allem thront Pippos unverkennbare Stimme. „Ich habe nie singen gelernt, ich tue es einfach.“ Zum Glück hat ihn nie jemand geformt, außer viele Jahre Bühnenleben und unzählige Konzerte.

Christel Amberg-Wiegand für www.erlebtemusik.de

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